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Nachruf auf Martin J. Kirschenbaum, PH.D.

07.11.1928 – 23.05.2012

Martin J. Kirschenbaum war einer der Ersten, die in den 1970er Jahren die systemische Familientherapie nach Deutschland brachten. Er initiierte die Gründung von drei Familientherapie-Instituten: In München (1975), in Berlin (1976) und in Hamburg (1978). Von 1975 bis 2005 leitete er fortlaufend dreijährige Weiterbildungsgänge. Allein am Münchener Institut für Systemisch-Integrative Therapie, MiSiT e.V., bildete er circa 500 Paar- und Familientherapeuten aus. Außer in den bereits erwähnten Städten war er in Weiterbildungsgängen in Wiesbaden und Oldenburg, in der Schweiz und in Italien tätig. Daneben führte er Trainings für Supervision und Fortgeschrittenen-Programme in Paartherapie durch. Ehemalige Ausbildungsteilnehmer gründeten weitere Institute. Martin Kirschenbaum hat der systemischen Therapie im deutschsprachigen Raum wesentliche Impulse gegeben.

1928 in New York geboren wuchs er in bescheidenen Verhältnissen in Brooklyn auf. Seine jüdischen Großeltern stammten aus Ostpreußen, Litauen, Österreich und Ungarn und wanderten in den 1890er Jahren wegen des dort herrschenden Antisemitismus in die USA aus.

1951 gewann Martin Kirschenbaum ein Stipendium an der City of New York University und absolvierte dort den ersten Teil seines Psychologiestudiums. 1952 bis 1955 war er als U.S.-Army-Psychologe in Deutschland stationiert und in dieser Funktion im Schwabinger Krankenhaus in München tätig, wo er mit der Diagnostik und Behandlung von psychisch auffälligen Air-Force-Offizieren betraut war. Martin Kirschenbaum kam als jüdischer Amerikaner einerseits mit gemischten Gefühlen nach Deutschland, andererseits fühlte er sich auf Grund seiner familiären Wurzeln im deutschsprachigen Raum schnell "zuhause". Er erkannte, dass auch viele Deutsche unter dem Krieg sehr gelitten hatten und vielfach traumatisiert waren. Die Erfahrungen aus dieser Zeit prägten seine Sicht auf Deutschland und weckten erstmals sein Interesse an der therapeutischen Arbeit mit psychischen Kriegsfolgen.

Nach dem Abschluss seines Studiums in Klinischer Psychologie und seiner Promotion (1961) auf dem Gebiet der Wahrnehmungspsychologie (graduated with honors) an der University of Kansas war er über viele Jahre in den USA als Klinischer Psychologe auf verschiedenen Gebieten tätig. Im Laufe der späten 1960er Jahre spezialisierte er sich auf systemische Paar- und Familientherapie und gründete neben anderen Instituten die California Graduate School of Family Psychology, ein vom Staat Kalifornien anerkanntes Ausbildungsinstitut zur Erlangung des Ph.D. in Klinischer Psychologie. Martin Kirschenbaum ist der humanistisch- wachstumsorientierten Familientherapie Virginia Satirs zuzuordnen, betonte jedoch zusätzlich die Integration psychodynamischer und körperorientierter Konzepte.

1968 kam er, eingeladen durch die schwedische Regierung, als erster Ausbilder in systemischer Paar- und Familientherapie nach Schweden und unterrichtete Psychiater, Psychotherapeuten und Psychologen an mehreren großen psychiatrischen Kliniken. Am Danderyd Psychiatric Hospital in Stockholm, geleitet von Dr. Gregor Katz, entstand unter seiner Supervision die erste Abteilung an einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in Europa, die die gesamte Familie der jugendlichen Patienten zur Behandlung aufnahm.

Wenige Jahre später (1975) wurde ein erster Weiterbildungsgang in Deutschland unter der gemeinsamen Leitung von Martin Kirschenbaum, Carole Gammer und George Downing in Weßling bei München angeboten. Es war eines der ersten Trainings in Paar- und Familientherapie in Deutschland, das Diplom-Psychologen und Sozialpädagogen offen stand.

Im Rahmen seiner Lehrtätigkeit legte Martin Kirschenbaum großen Wert auf die Selbsterfahrung der Teilnehmer. Die intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Person, der eigenen Paarbeziehung sowie der Prägung durch die Familiengeschichte stellte einen wichtigen Teil der Ausbildung zum Familientherapeuten dar. Dabei schuf Martin Kirschenbaum einen sicheren Rahmen, um belastende Aspekte der Familiengeschichte der Teilnehmer zu bearbeiten, z.B. Verstrickungen der Eltern- bzw. Großelterngeneration mit dem Nationalsozialismus. Martin Kirschenbaums Fähigkeit, mit diesen Themen zu arbeiten, war beeindruckend, bewegend und inspirierend. Mitte der 1990er Jahre setzte er wesentliche Impulse dahingehend, in Hamburg eine systemisch geprägte Trauma-Weiterbildung zu konzipieren.

Er zeigte ein höchst waches Interesse an deutscher Geschichte und Politik. Die deutsche Wiedervereinigung erlebte er während eines Weiterbildungsseminars in München und arbeitete mit den Kursteilnehmern an den emotionalen Auswirkungen der Ereignisse. Weltgeschehen und Psychologie waren bei seiner Art auszubilden keine getrennten Bereiche, vielmehr bezog er relevante Ereignisse in ganz direkter und emotionaler Weise in die Weiterbildung ein. Besonders lag ihm am Herzen, angehende Therapeuten zu ermutigen, vor den Klienten-Familien nicht perfekt sein zu müssen. Authentizität, Humor und gelegentlich auch Provokation waren wesentliche Elemente seines Unterrichtens.

Im Jahr 2005 musste Martin Kirschenbaum wegen gesundheitlicher Probleme im Alter von 77 Jahren seine mehr als 30-jährige Lehrtätigkeit in Europa beenden. Seine Schüler und Mitarbeiter haben Martin Kirschenbaum als einen Menschen voller Wärme, Großzügigkeit und Humor und als unkonventionellen und höchst kreativen Lehrtherapeuten erlebt. Er war ein wunderbarer Erzähler von Geschichten und ein wirklich glaubwürdiger Vertreter der humanistischen Psychologie und des damit verbundenen Wachstumsmodells.

Im November 2011 erstellte das Münchener Institut für Systemisch-Integrative Therapie, MiSiT e.V. in Orinda, Kalifornien, ein filmisches Portrait von Martin Kirschenbaum. In einem ausführlichen Interview blickte er auf sein Leben und sein Werk zurück.

Martin Kirschenbaum starb am 23.05.2012 im Alter von 83 Jahren in Kalifornien im Beisein seiner Frau Inger, sowie seiner drei erwachsenen Kinder.


Elisabeth Breit-Schröder und Alexander Korittko



Veröffentlichungen von Martin J. Kirschenbaum:

  • "The Dynamic Family"
    Shirley G. Luthman, Martin Kirschenbaum
    Introduction by Virginia Satir, MSW
    Science and Behaviour Books, Inc., Palo Alto, Ca 1974
  • "Children of the Holocaust"
    Family Therapy, the Journal of the California Graduate School of Family Psychology
    Volume XV, Number 3, 1988, Libra Publishers, Inc. San Diego, CA
    ISSN: 0091-6544
  • "Characteristic Patterns in Drug Abuse Families"
    Family Therapy, the Journal of the Family Therapy Institute of Marin
    Volume 1, Number 1, 1972, Libra Publishers, Inc., San Diego, CA
  • "Willkommen im 21.Jahrhundert!"
    In: Hantel- Quittmann, W. und Kastner, P.
    Die Globalisierung der Intimität. Die Zukunft intimer Beziehungen im Zeitalter der
    Globalisierung. Psychosozial Verlag, Gießen, 2002, 7-13
  • (sowie weitere Artikel in Fachzeitschriften)